"In der Demokratiebildung braucht es Erwachsene, die Macht abgeben"

Elfriede Liebenow Fotografie
Wie steht es um die demokratische Beteiligung von Jugendlichen auf dem Land? In welchem Umfang und wo findet sie statt? Prof. Dr. Elisabeth Richter berichtet im Interview, was sie mit ihrem Team im Forschungsprojekt DemoParK untersucht hat.
Prof. Dr. Elisabeth Richter leitete von 2021 bis 2024 das Projekt „Demokratische Partizipation Jugendlicher auf dem Lande. Potenziale und Perspektiven des ehrenamtlichen Engagements in Jugendverband und Kommune“ (DemoParK). Das Projekt ist Teil der BULEplus-Förderung „Ehrenamtliches Engagement in ländlichen Räumen“.
BULE-Redaktion: Frau Richter, eine Demokratie funktioniert nur, wenn sich alle beteiligen. Welche Rechte haben Jugendliche eigentlich, sich aktiv einzubringen?
Frau Richter: Wir haben internationale und nationale rechtliche Vorgaben zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen durch die UN-Kinderrechtskonvention und in Deutschland auf Basis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. In fast allen Bundesländern gibt es darüber hinaus Kommunalverfassungen, die besagen, dass Kinder und Jugendliche an Entscheidungen in der Kommune beteiligt werden sollen. Man unterscheidet die non-formelle Beteiligung und die formelle. In der Praxis werden Kinder und Jugendliche oft nur non-formell beteiligt, ohne dass eine verlässliche demokratische Partizipation eröffnet wird. Das ermöglicht erst die formelle demokratische Partizipation, die in einer Satzung festgeschrieben ist und beispielsweise in den Gremien der Jugendverbände und Kinder- und Jugendparlamenten ausgeübt wird.
BULE-Redaktion: Was genau war Ihre Fragestellung im Projekt?
Frau Richter: Die Frage war, wo und auf welche Weise finden solche demokratischen Partizipationsprozesse auf der kommunalen Ebene in Jugendverbänden, Kinder- und Jugendparlamenten und im Jugendhilfeausschuss statt? Wie gut funktionieren Jugendverbände als „Werkstätten der Demokratie“ und die Kommunen als „Schulen der Demokratie“?
BULE-Redaktion: Wie sind Sie vorgegangen?
Frau Richter: Wir haben in Schleswig-Holstein und in Brandenburg jeweils zwei Kreise ausgewählt – einen sehr ländlichen einen weniger ländlichen. Bei der Auswahl war es das Ziel, dass jeweils eine Landjugend, ein Sportverein und eine freiwillige Feuerwehr vorhanden sind. In jedem Kreis hat das Forschungsteam außerdem ein Kinder- und Jugendparlament und einen Jugendhilfeausschuss untersucht. Wir haben Interviews mit 30 engagierten Jugendlichen und 20 Erwachsenen geführt, aber auch Protokolle und Websites ausgewertet.
BULE-Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Was waren die Ergebnisse?
Frau Richter: Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die als demokratisch gewählte oder ernannte Ehrenamtliche aktiv sind, sind glücklich damit, wie es läuft. Allerdings ist das oft ein ausgewählter Kreis an Jugendlichen, die zum Beispiel den Bürgermeister kennen, schon lange im Dorf wohnen oder in einer Familie aufwachsen, in der Verwandte schon engagiert sind. Weitere Gruppen wie Zugezogene oder diejenigen ohne familiäre Vereinstradition, bleiben dann oft außen vor. Das ist eine Hürde für die demokratische Einbindung, der Jugendverbände und Kommunen entgegenwirken sollten.
BULE-Redaktion: Wovon hängt es ab, ob Jugendliche sich beteiligen oder nicht? Was braucht es, um demokratisch aktiv zu werden?
Frau Richter: Es ist wichtig, die Erfahrung zu machen, dass man etwas bewirken kann. Stichwort „Selbstwirksamkeitserfahrung“. Non-formelle partizipative Formate ermöglichen es nur begrenzt, mitentscheiden zu können, weil keine verlässlichen demokratischen Strukturen bestehen. So entsteht oft Scheinpartizipation, weil die Erwachsenen oder gewählten Jugendvorstände Entscheidungen nicht an alle jugendlichen Mitglieder abgeben, sondern für sich treffen. Wenn auf diese Weise Selbstwirksamkeitserfahrung auf lange Sicht nicht eintritt, kann das zu Enttäuschung führen. Daher brauchen Jugendvereine und -organisationen nicht nur eine Verfassung, in der Rechte, Gremien und Verfahren klar festgelegt sind, sondern sie müssen auch das Aushandeln von Alltagsregeln an die Kinder und Jugendlichen abgeben. Es braucht außerdem Ressourcen: Damit meine ich sowohl Zeit, um Kinder- und Jugendliche einzubeziehen, als auch Budget. Wichtig sind auch Räumlichkeiten und Orte, um sich treffen und miteinander reden zu können.
Last but not least: Wir brauchen in der Jugendarbeit Erwachsene, die Macht abgeben und sich die Zeit nehmen, Entscheidungen mit den Jugendlichen dauerhaft und nicht nur nach Lust und Laune zu teilen.

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Kinder und Jugendliche wollen mitmischen.
BULE-Redaktion: Was sind spezielle Herausforderungen auf dem Land in Bezug auf Demokratiebildung?
Frau Richter: Kinder- und Jugendliche kommen auf dem Land von alleine nicht weit weg von Zuhause. Daher ist es auf Gemeindeebene wichtig, vor Ort Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen. Ergänzend ist digitale Jugendbeteiligung auf dem Land wichtig, um Entfernungen zu überwinden und sich von zu Hause aus einbringen zu können. Es braucht also Strukturen, damit jede und jeder Zugang hat. Wir brauchen alle für die Demokratie!
BULE-Redaktion: Was können ländliche Kommunen tun, damit sich Kinder und Jugendliche aktiv einbringen?
Bei demokratischen Prozessen ist es wichtig, ein Spiegelbild der Bevölkerung zu schaffen. Möglichst alle sollten angesprochen werden und das Gefühl haben, dass ihre Meinung gefragt ist. Es ist sehr sinnvoll, eine feste Ansprechperson für Jugendliche für die Partizipation Jugendlicher auf kommunalpolitischer Ebene im Sinne einer Partizipationsbegleitung zu benennen.
BULE-Redaktion: Was raten sie einer Bürgermeisterin oder einem Bürgermeister auf dem Land, der etwas für die Demokratiebildung tun möchte?
Frau Richter: Ich empfehle, in die Jugendverbände, das Jugendfreizeitheim und die Kita zu gehen und Kinder- und Jugendliche zu fragen: Wie schaffen wir es, alle demokratisch zu beteiligen? Wie binden wir insbesondere auch die ein, die immer an der Bushaltestelle abhängen und vielleicht von zu Hause aus wenig Motivation für Mitgliedschaft und Engagement in Kinder- und Jugendeinrichtungen bekommen. Es gibt auch Qualitätsstandards für die Jugendbeteiligung, die viele Tipps geben.
Prof. Dr. Elisabeth Richter lehrt seit 2016 als Professorin für Interkulturelle Soziale Arbeit an der MSH Medical School Hamburg. Sie leitet dort das Department Arts Therapies and Social Work. Ihr Schwerpunkt liegt auf Demokratiebildung in verschiedenen Einrichtungen wie Kitas, der Jugendarbeit und in der Gemeinwesenarbeit.